Trennung von Arbeit und Privatleben?

Trennung von Arbeit und Privatleben?

Arbeitsschluss um 17 Uhr? Trennung von Arbeit und Privatleben? Das scheinen, wenn man sich in modernen Arbeitswelten umschaut mit WohnOffice, Coworking, mobil flexiblen Arbeitsmodellen,  Relikte der Generation Wirtschaftswunder zu sein. 

WIR ARBEITEN ÜBERALL

Früher ging man zur Arbeit ins Büro, heute arbeiten wir überall. Mit dem Tablet auf dem Spielplatz, dem Smartphone am Strand, nachts, noch eben E-Mails checken. Die Arbeit erreicht dank der Mobiltechnologie alle Nischen und Randbezirke unseres Lebens, rund um die Uhr. Zugegeben, es klingt zunächst einfach herrlich, Arbeit und Freizeit, Freizeit und Arbeit miteinander zu mischen und produktiv, kreativ und rekreativ zu sein, wenn es möglich oder nötig ist. 

FEIERABEND IST NUR WAS FÜR SPIESSER

Flexibles Arbeiten gehört bei vielen Unternehmen längst zum Alltag und wird von rund 90 Prozent der Mitarbeitenden genutzt. Nach einer aktuellen Studie des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW). bringen Unternehmen, die auf flexible Arbeitsbedingungen setzen, im Schnitt 11 bis 14 Prozent mehr neue oder verbesserte Produkte auf den Markt als Unternehmen, die ihre Mitarbeitenden mit einem starren Arbeitsplatzkonzept an der kurzen Leine halten.

FREIHEIT UND SELBSTBESTIMMUNG

Die Generationen Y und Z streben nach mehr Freiheit und Selbstbestimmung – auch und vor allem im Job. So arbeiten laut einer Studie des Centre of Human Resources Information Systems bereits heute fast 86 Prozent aller Arbeitnehmenden am liebsten in einem Unternehmen, das auf flexible Arbeitsmodelle setzt.

FERIEN, SOVIEL MAN WILL

Virgin-Gründer und Milliardär Richard Branson und auch Technik Unternehmen wie Google und Facebook setzen noch einen drauf. Die Mitarbeiter dürfen Urlaub machen so viel sie wollen. Allerdings soll und muss das Arbeitspensum freilich erfüllt werden. Somit steckt der einzelne Mitarbeiter umso mehr in der Verantwortung.

DAS BÜRO WIRD ZUM BESSEREN ZUHAUSE – VOR CORONA

Die Firma überlässt Starköchen die Mitarbeiterverpflegung, organisiert Grillevents, Sport- und Spasskurse und sorgt mit Rundum-Sorglos Paketen dafür, dass die Bürospielplätze gar nicht mehr verlassen werden wollen. Der Arbeitsplatz wird immer mehr zum Zuhause, das Unternehmen ersetzt Familie und Freundeskreis.

NEUER UMGANG MIT MITARBEITENDEN

Das Resultat der Verwöhnprogramme: "Jeder Aspekt meines Lebens ist mit der Arbeit verbandelt, inklusive meines gesellschaftlichen Lebens und der Partnersuche", sagt ein ehemaliger Google-Mitarbeiter, der anonym bleiben möchte. "Firmen wie Google und Facebook - die neue Elite - können eine neue Norm schaffen, wie Unternehmen ihre Mitarbeiter behandeln", sagt Jan English-Lueck, Professorin für Anthropologie an der San José State University im Silicon Valley.

NEUE ELITE-ARBEITERSCHAFT?

Eine wichtige Frage sei für sie aber nicht beantwortet, sagt English-Lueck, die seit Jahren die kulturellen Eigenheiten des Silicon Valley untersucht: "Wird damit eine zusätzliche Ebene der Ungleichheit geschaffen mit einer bestens versorgten Elite-Arbeiterschaft und einer Art Proletariat, die nie in den Genuss solcher Programme kommen wird?" Denn die Abkapselung vergrössert auch den Graben zwischen den verhätschelten Angestellten der Technologiekonzerne und dem Rest, der mit stagnierenden Gehältern und steigenden Lebenshaltungskosten zu kämpfen hat. Durch Corona hat sich dieses Bild jedoch verändert und die Wissensarbeitenden sind alle wieder im WohnOffice gelandet. Jetzt müssen sich die Unternehmen etwas Neues einfallen lassen, um Mitarbeitende zu binden.

DIE ERWARTUNGEN BLEIBEN GLEICH

Und über eins darf die neue Lockerheit in Unternehmen nicht hinwegtäuschen: Auch wenn der Ton freundlich und die Fürsorge gross ist: Unter der Oberfläche lässt der Druck nicht nach. Ganz im Gegenteil. Weniger formale Erwartungen führen zu mehr Druck. In dem Mass, in dem die formalen Erwartungen an den einzelnen Arbeitnehmer reduziert werden, steigen die informellen Erwartungen: Muss ich abends noch mal meine Mails checken? Wie viel muss ich im WohnOffice arbeiten? Wie viel Verantwortung trage ich selbst?

LOYALITÄTSFALLE

Wenn all das unklar ist, werden loyale Mitarbeiter im Zweifel eher mehr leisten als weniger. Dazu passt, dass es im Management inzwischen verbreitet ist, viel Verantwortung, die früher Chefs und Abteilungsleiter übernommen haben, auf Mitarbeitende zu übertragen. Die finden das zunächst toll, weil sie sich ernst genommen fühlen. An ihren Chancen auf eine wirklich bessere Stelle ändert das aber nichts, sie bleiben Zuarbeiter. Es ist wie immer, jede Errungenschaft birgt Risiken und es kommt ganz darauf an, wie der Einzelne damit umgeht.

BUCHTIPP

Ein lesenswerter Roman zu diesem Thema: Dave Eggers: Der Circle. Verlag Kiepenheuer & Witsch


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